„Stahlschrott ist eine sichere Rohstoffbasis“

Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, im Interview

Quo vadis, Stahlbranche? Energiewende, Eurokrise und Internationalisierung der Märkte verlangen von den Entscheidern in der deutschen Stahlindustrie mehr denn je innovative Strategien. Über Megatrends in der Branche sprach recyclingnews mit Hans Jürgen Kerkhoff. Der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl und Vorsitzende des Stahlinstituts VDEh ist überzeugt: Stahlschrotte sorgen als Sekundärrohstoff für langfristige Versorgungssicherheit. Schon heute bilden sie knapp die Hälfte des Materialeinsatzes bei der Jahresproduktion von deutschem Rohstahl.

Die Stahlbranche erlebt unsichere Zeiten: Seit April 2012 ist die Nachfrage nach Rohstahl infolge der Eurokrise deutlich zurückgegangen. Zusätzlich drängen verstärkt Hersteller aus Russland auf den europäischen Markt. Für deutsche Unternehmen wird es zusehends schwerer, die vorhandenen Produktionskapazitäten auszulasten. Enorme Preisschwankungen sind die Folge – auch auf dem Markt für Stahlschrotte, einer entscheidenden Sekundärrohstoff-Basis für die Rohstahlproduktion hierzulande. Vielen Branchenunternehmen fehlt die Planungsgrundlage, um weiterhin wirtschaftlich zu arbeiten. Inzwischen erwägen Arbeitgeber und Gewerkschaften, erneut auf Kurzarbeit umzustellen.

Gleichzeitig wird der Stahlsektor auch durch die Energiewende in Deutschland mit einer Reihe von Unwägbarkeiten konfrontiert. So wächst die Sorge um steigende Energiepreise und explodierende Produktionskosten. Andererseits besteht die Hoffnung, dass die Nachfrage nach innovativen Stahlverbindungen zunehmen wird – beispielsweise für den Ausbau von Windkraftanlagen. Stahl als grüner Werkstoff? Aus ökologischer Sicht erfüllt das Material schon längst eine zentrale Anforderung an Umweltverträglichkeit: Stahlerzeugnisse lassen sich am Ende des Produktlebenszyklus wieder einschmelzen und ohne nennenswerten Qualitätsverlust beliebig oft recyceln. Bleibt die Frage, was die deutsche Stahlwirtschaft darüber hinaus unternehmen kann, um sich angesichts der drohenden Krise eine stabile Basis zu verschaffen.

Herr Kerkhoff, die Stahl- und Metallbranche gilt als Trendbarometer für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Welche Strategie zeichnet sich unter den aktuellen Rahmenbedingungen als besonders erfolgversprechend ab?

Hans Jürgen Kerkhoff: Sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren, hat sich für die Stahlindustrie in Deutschland bisher immer als gute Strategie erwiesen. Zu unseren Stärken gehören: höchste Qualität, enge Zusammenarbeit mit den Kunden und technologische Marktführerschaft. Mit ihren unverwechselbaren Eigenschaften unterscheidet sich die Stahlindustrie in Deutschland gerade in diesen Zeiten deutlich von anderen europäischen Ländern und der dortigen Entwicklung.

Die Automobilindustrie forscht seit einiger Zeit verstärkt an Leichtbau-Rohstoffen. Wie ist es um die Zukunft des Werkstoffs Stahl im Fahrzeugbau bestellt?

Hans Jürgen Kerkhoff: Gelegentlich wird voreilig behauptet, Stahl hätte als Konstruktionswerkstoff insbesondere im Automobilbau keine allzu große Zukunft. Gerade im Zusammenhang mit dem Thema Leichtbau heißt es immer wieder, Stahl werde von anderen Metallen wie zum Beispiel Aluminium und Magnesium abgelöst – oder sogar irgendwann von kohlefaserverstärkten Kunststoffen. Diese Werkstoffe haben zweifellos den physikalischen Vorteil eines geringeren spezifischen Gewichts als Stahl. Betrachtet man allerdings weitere Aspekte wie Sicherheit, Wirtschaftlichkeit, Recycling und Lebenszyklus-Analyse, schrumpft dieser Vorteil. Stahl, dessen Innovationspotenzial kontinuierlich weiter ausgeschöpft wird, wird deshalb auch künftig seine dominierende Rolle als industrieller Werkstoff Nummer eins behalten. Allerdings wird die „Symbiose“ mit anderen Werkstoffen in Form von Hybrid- oder Multi-Material-Lösungen immer stärker in den Vordergrund rücken, nach dem Motto: der richtige Werkstoff an der richtigen Stelle. Stahl bleibt dabei wichtig und unverzichtbar.

Die Energiewende lässt einerseits deutlich steigende Energiepreise befürchten, andererseits wird beispielsweise für den Ausbau von Windkraftanlagen viel Stahl benötigt. Sehen Sie die Energiewende eher als Chance oder Risiko für die Branche?

Hans Jürgen Kerkhoff: Deutschland verfügt über intakte industrielle Wertschöpfungsketten, an deren Anfang eine leistungsfähige Stahlindustrie steht. Dies ist eine Chance für das Gelingen der Energiewende. Die Entwicklung erneuerbarer Energien oder energieeffizienter Lösungen ist ohne innovative Stahlwerkstoffe gar nicht denkbar. Allerdings darf die Stahlindustrie nicht überfordert werden, denn die Energiewende bedeutet auch eine starke Belastung. Wenn der Netzausbau nicht Schritt hält oder die Kosten explodieren, muss nachgesteuert werden. Schon heute liegen die Industriestrompreise in Deutschland europaweit an der Spitze. Um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu wahren, braucht die Stahlindustrie Entlastungen von den politisch bedingten Kosten aus Emissionshandel, Erneuerbare-Energien-Gesetz und Energiesteuer. Die Energiewende kann nur erfolgreich bewältigt werden, wenn die industrielle Basis erhalten bleibt.

Parallel zur Verschärfung der Schuldenkrise in Euro-Ländern wie Spanien, Italien und Griechenland ist der Wert des Euros deutlich gefallen. Wie wird sich die Entwicklung des Euro auf die Stahl- und Metallbranche auswirken?

Hans Jürgen Kerkhoff: Die Auftragseingänge bei Walzstahlerzeugnissen sind im zweiten Jahresviertel um 12 Prozent gegenüber dem Vorquartal zurückgegangen. Ebenso verzeichnet die Branche im Quartalsvergleich Einbußen bei Bestellungen aus dem Inland sowie insbesondere aus der EU-27. Einzig die Orders aus Drittländern legten zu – gestützt auch durch den niedrigen Euro-Kurs. Die Auftragsbestände sind im Juni erstmals seit November wieder unter die 8-Millionen-Tonnen-Grenze gesunken.
Für diese Eintrübung ist in der Tat vor allem die erneute Verschärfung der Euro-Krise ursächlich. Aufgrund der entstandenen Unsicherheit werden gegenwärtig Investitionspläne zurückgestellt und Lagerbestände bei Händlern und Verarbeitern heruntergefahren. Diese dürften mittlerweile bereits auf einem niedrigen Niveau liegen. Daher ist eine weitere deutliche Abwärtsbewegung im Bestelleingang zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu erwarten. Eine nachhaltige Belebung der Stahlkonjunktur setzt jedoch voraus, dass es der Politik gelingt, das Vertrauen in die Lösbarkeit der Euro-Staatsschuldenkrise wieder herzustellen.

Die globalen Zentren des Wirtschaftswachstums haben sich in den letzten Jahren verschoben, die internationale Konkurrenz vor allem aus Asien nimmt zu. Was leistet Recycling vor diesem Hintergrund für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Stahlunternehmen?

Hans Jürgen Kerkhoff: In Deutschland wird knapp die Hälfte des Stahls aus Schrott hergestellt. Durch den Einsatz von circa 20 Millionen Tonnen Stahlschrott werden hierzulande circa 30 Millionen Tonnen Eisenerz und 13 Millionen Tonnen Kohle eingespart – Material, das nicht auf den internationalen Märkten beschafft werden muss. Die Stahlindustrie in Deutschland ist fast vollständig auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Einzige Ausnahme ist der Sekundärstoff Stahlschrott. Das heimische Aufkommen ist für die Stahlunternehmen eine sichere Basis, um die uns aufstrebende Wirtschaftsregionen wie Asien oder etwa die Türkei beneiden. Außerdem hilft die Stahlherstellung auf Schrottbasis, den Bedarf an Energie bei der Produktion zu senken. Das bereits heute durchgeführte Recycling ist somit ein Musterbeispiel für die Nachhaltigkeit des Werkstoffs Stahl.
Stichwort Asien: Chinas Bedeutung auf dem globalen Schrottmarkt hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. So haben Chinas Stahlhersteller die Importversorgung beim Stahlschrott deutlich forciert und sind zu einem bedeutenden Player geworden. Vor allem die Importe von Stahlschrott aus der EU sind deutlich gestiegen.

Noch einmal zur Nachhaltigkeit: Mit welchen konkreten Maßnahmen trägt die deutsche Stahl- und Metallbranche schon heute aktiv zum Schutz der natürlichen Ressourcen bei?

Hans Jürgen Kerkhoff: Beim Thema Ressourceneffizienz ist die deutsche Stahlindustrie im Vergleich zu anderen Ländern führend. Recycling von Stahlschrott leistet dabei – wie bereits erwähnt – einen wichtigen Beitrag. Hinzu kommt, dass anfallende Stäube und Schlämme weitestgehend in gesonderten Anlagen abgeschieden werden. Verfahren wie diese haben zu einem ausgereiften Materialmanagement-System geführt. Ferner wird im gesamten Herstellungsprozess außer Stahl eine Vielzahl von Nebenprodukten erzeugt: Verschiedene Schlacke-Arten können entweder direkt als hochwertiger Baustoff genutzt oder als Rohstoff zum Beispiel für die Zementherstellung verwendet werden. Das schont die natürlichen Rohstoffvorräte. Ebenso bedeutend ist Energieeffizienz bei der Stahlerzeugung aus Eisenerz. Die entstehenden Kuppelgase werden in einem zweiten Nutzungsschritt in eigenen oder angegliederten Anlagen zur Prozesswärmeerzeugung oder zur Stromerzeugung eingesetzt.

Was erwarten Sie angesichts der im Januar 2012 verabschiedeten WEEE-Richtlinie der EU von der Entwicklung im Bereich Elektro- und Elektronikschrotte?

Hans Jürgen Kerkhoff: Durch die Änderung der WEEE-Richtlinie wird einerseits der Anwendungsbereich bei Elektro- und Elektronikgeräten erweitert. Gleichzeitig werden die Vorgaben für die Sammelquoten deutlich angehoben. Betroffen sind zwar im Wesentlichen die typischen elektronischen Bauteile und die darin eingesetzten Metalle. Allerdings wird die Richtlinie selbstverständlich auch für einen erhöhten Rücklauf von Stahlschrotten sorgen. Aufgrund der Multirecyclingfähigkeit von Stahl, der auch nach dem hundertsten Nutzungszyklus seine inhärenten Eigenschaften behält, kann das Material immer wieder in neuen Produkten einsetzt werden: heute als Waschmaschine, morgen als PKW oder als Windrad zur Energieerzeugung.

Herr Kerkhoff, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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